Gero P. Weishaupt
                                                            Gero P. Weishaupt                                                                                       

Kirche und Menschenrechte

 

 

 

Am 10. Dezember 2018 jährte sich zum siebzigsten Mal die Verkündigung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen die „Allgemeine Deklaration der Menschenrechte“. Nach ihrer Frontstellung gegenüber einem falschen Freiheitsbegriff im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution bekennt die Kirche sich erneut zu den Menschenrechten.

 

 

Am 10. Dezember 1948, vor nunmehr 70 Jahren, wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die „International Bill of Human Rights“ angenommen, die „Allgemeine Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen“. Vor dem Hintergrund der Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges durch nationalsozialistische und kommunistische Diktaturen suchten die Menschen nach einem Weg, den Menschenrechten weltweit Geltung zu verschaffen. Grundlage der Menschenrechte ist die Würde der menschlichen Person. Sie ist im Naturrecht und im hellenistischen, jüdischen und christlichem Menschenbild (Anthropologie) begründet. Die Menschenrechte sind keine Erfindung der neuzeitlichen Aufklärung oder Ergebnis der Französischen Revolution, wie zuweilen behauptet wird.

 

Ansätze zur Idee der Menschrechte bereits in der Antike

 

Schon Aristoteles formulierte den Gedanken, dass dem Menschen  und der Familie gegenüber den Interessen des Staates Vorrang zukomme. Der Grieche betonte neben der Vernunftbegabung die Eigenschaft des Menschen, ein soziales Wesen zu sein, so dass der Staat sich aus der Sozialnatur des Menschen ergibt. Platon hatte vor Aristoteles den Gebrauch des Geistes als eine Eigenschaft des Menschen hervorgehoben und gefordert, die Begierden des Leibes durch die Vernunft zu zähmen.

 

Gleichwohl ist es richtig, dass die Antike die Menschenrechte noch nicht im Sinne der modernen Menschrechtsvorstellungen kannte, schon deswegen nicht, weil die Sklaverei eine selbstverständliche Einrichtung gewesen ist. Dennoch gab es auch schon in der Antike ein Umdenken in Bezug auf die Sklaven, vor allem dank der Stoa. In seinem 47. Brief an Lucilius (Epistulae morales) ruft der römischen Philosoph Seneca dazu auf, die Sklaven gut zu behandeln, und er begründet dies mit der allen Menschen innewohnenden Vernunftnatur und der „goldenen Regel“: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.

 

Es war aber erst das Christentum, das den Menschen – Geschöpf und Ebenbild Gottes – als einzigartiges und unverwechselbares Individuum erkannte, dessen Würde in der von Gott ihm verliehenen Vernunft und Willensfreiheit und der mit diesen Kräften ausgestatten Seele besteht, die für das Leben im Jenseits bei Gott bestimmt ist.

 

Erst auf dieser hellenistisch-judenchristlichen Grundlage konnte sich allmählich die Forderung nach einem allgemeinen und einklagbaren Schutz jedes Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt entwickeln.

 

Schriftliche Niederlegungen der Menschenrechte

 

Diese Entwicklung setzte allerdings erst im 2. Jahrtausend ein, zumindest was die schriftliche Niederlegung solcher Menschenrechte angeht. Die erste schriftliche Niederlegung ist die Magna Charta Libertatum von 1215, mit der dem englischen König Johann Ohneland gewisse Rechte für die Grafen und Barone abgetrotzt und damit die Rechte des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt schriftlich grundgelegt wurden. Mehr als 400 Jahre sollte es dauern, bis es zu einer zweiten schriftlichen Verfassung von „Menschenrechten“ kam. Wieder war es in England. 1679 nahm Charles II die Habeas-Corpus-Akte an. Darin wurden – nach heutigen rechtsstaatlichen Prinzipien selbstverständlich – unter anderem die Forderungen aufgestellt, dass niemand ohne richterliche Anordnung verhaftet, ohne Verhör in Haft behalten und ohne Anhörung länger als drei Tage festgehalten werden durfte.

 

Das in England zum ersten Mal entstandene rechtsstaatliche Bewußtstein wirkte sich auf die Kolonien Nordamerikas aus. Diese haben sich vom Mutterland England auch staatsrechtlich losgelöst, indem die einzelnen Nordstaaten in den Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 grundlegende Rechte für sich formulierten: Alles Menschen sind von Natur aus frei und besitzen unveräußerliche Rechte, zu denen Leben, Freiheit, Eigentum und Streben nach Glück und Sicherheit gehören. Prozessuale Rechte, Presse- und Religionsfreiheit sind jedem Menschen zu garantieren. Es sind Rechte, die auf den englischen Philosophen John Lock zurückgehen (1632-1704), ja beinahe wörtlich seinem Second Treatise on Government (Zweite Abhandlung über die Regierung“) entnommen sind. Allerdings leitet der englische Empirist wie die meisten Philosophen der Aufklärung, d.h. des klassischen Empirismus (England/Schottland: Hobbes, Berkeley, Hume), des klassischen Rationalismus (Frankreich/Deutschland: Decartes, Spinoza, Leibniz, Wolff),  und Kant mit ihrer Wende zum Subjekt die Menschenrechte nicht mehr aus einem in der objektiv vorgegebenen Seinsordnung begründeten Naturrecht ab, wie es die mittelalterliche Scholastik auf der Grundlage der antiken Philosophie, die Spanische Scholastik, die Neoscholastik und in deren Gefolge die Katholische Kirche ab dem späten 19. Jahrhundert (Leo XIII.) tun. Vielmehr verstanden John Lock und seine Zeitgenossen die Menschenrechte als eine Form rein subjektiver Rechte. Diese „natürlichen“ Rechte sind Leben, Freiheit und Eigentum.

 

Aus dieser neuzeitlich-aufgeklärten Menschenrechtsidee geht, vor allem unter Einfluss des französischen Philosophen Jean Jacques Rousseau und dessen Lehre vom allgemeinen Willen, welcher jedem Menschen verschiedene angeboren und unveräußerlich Rechte gewährte, das wohl wichtigste Dokument im Zusammenhang mit den Menschenrechten hervor: die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 16. August 1789 durch die französische Nationalversammlung. Sie richtete sich gegen das absolutistische Königtum und der Willkürherrschaft des Einzelnen. Hier findet sich zum ersten Mal der Anspruch der universellen Geltung der Menschenrechte.

In den folgenden Jahrzehnten nach der Französischen Revolution ging es darum, die universellen Menschenrechte als Grundrechte in den jeweiligen nationalen Verfassungen zu etablieren. Das erfolgte im Verlauf des 19. Jahrhunderts. „Die Menschenrechte, wie sie in den Verfassungen der Nationalstaaten niedergeschrieben waren, beanspruchten universelle Gültigkeit, ihre verbindliche Verankerung als Grundrechte war aber auf die Nationalstaaten begrenzt. Diesen Widerspruch galt es in einem dritten Schritt, und zwar mit dem Versuch der universalen politischen und rechtlichen Umsetzung der Menschenrechte aufzulösen“ (Reinhard Pohanka, Dokumente der Freiheit, 10).

 

Die Kirche verteidigte die Menschenrechte

 

Ursprünglich war die Katholische Kirche der Idee der Menschenrechte aufgeschlossen und verteidigte sie, haben doch die Menschenrechte nachweislich ihre Wurzel in der menschlichen Wesensnatur, dem daraus durch die Vernunft ableitbaren Naturrecht und der christlichen Anthropologie. So war es z. B. die Katholische Kirche, die die Würde und die Freiheitsrechte der Indios im 16. Jahrhundert gegenüber den spanischen Konquistadoren verteidigte.

 

Die Bulle „Sublimis Deus“ von Papst Paul III.

 

Nach der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus (1492) wurden die Indios in kürzester Zeit gewaltsam christianisiert und durch Völkermord, Krankheiten und Zwangsarbeit dezimiert. In Spanien entstand eine hitzige Debatte über die Frage, ob die Indios vollwertige Menschen seien und ob man ihre Unterwerfung zum Zweck ihrer Missionierung als „gerechten Krieg“ auffassen könne. Um diese Streitfrage zu klären, berief Kaiser Karls V. 1550 die angesehensten Theologen und Juristen der damaligen Zeit nach Valladolid in Spanien. Dabei trat der Dominikaner Bartolomé de Las Casas (1474-1566) entschieden für die Rechter der Indios ein und Stellte der brutalen Versklavung der Urbevölkerung das Gebot der Menschlichkeit entgegen. Die Indianer hätten vor der Ankunft der Spanier eine hohe Kulturstufe erreicht. Man hätte sie im Sinne der Völkerrechts als vollwertige Menschen und nicht als tierähnliche Barbaren behandeln sollen. Die Argumente des Dominikaners fanden ihre Bestätigung in der Bulle „Sublimis Deus“ von Papst Paul III. vom 2. Juni 1537. Darin verbot der Papst hoheitlich kirchenamtlich die Versklavung der indianischen Ureinwohner  von Amerika und aller anderen Menschen.

 

Vorbehalte der Kirche gegenüber der Menschenrechtsidee der Aufklärung

 

Die Vorbehalte der Päpste bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber den Menschenrechte sind aus der Formulierung und Begründung der Menschenrechte durch die Philosophen der  Aufklärung und durch deren Erklärung und Umsetzung  im Gefolge der kirchenfeindlichen Französischen Revolution zu verstehen. „Aus der Frontstellung zwischen Kirche und französischer Revolution ist dann leider auch eine Frontstellung gegenüber den Menschenrechten entstanden, die letzten Endes mit gewalttätigen Umtrieben identifiziert worden“ (Markus Rothhaar, „Von der Scholastik inspiriert“, in: „Die Tagespost“ vom 6.6.2018).

 

Die Wende

 

Hatte Papst Pius VI. die Menschrechte vor dem Hintergrund der Schläge der Französischen Revolution und ihrer Freiheitsidee konsequenterweise abgelehnt, so hat Papst Leo XIII. in den 1870er Jahren bereits anerkannt, dass es innerhalb des göttlichen Rechtes gewisse Menschenrechte gebe. In seiner Enzyklika „Libertas praestantissimum“ von 1888 lehnte Leo XIII. zwar noch prinzipiell die Forderungen nach Freiheit ab, nahm aber bereits bestehende Freiheiten der Bürger davon aus. solange sich daraus kein Totalanspruch entwickelte. Für Markus Rothhaar, u.a. Professor für Rechtsphilosophie und Politische Philosophie, hängt dieses Umdenken der Kirche mit der „Vorarbeit der frühen Neuzeit gerade durch die spanische Spätscholastik“ zusammen, „die wahrscheinlich aber erst einmal wieder ins Bewusstsein zurückkehren musste“ („Die Tagespost“ vom 6.6.2018). Die Frontstellung der Kirche gegenüber der aufklärerischen Menschenrechtsidee beruhte letztendlich auf dem  unterschiedlichen Freiheitsdenken der französischen Aufklärung einerseits, der den Menschenrechtserklärung von 1789 zugrundliegen, und der der Katholischen Kirche andererseits, das im Naturrecht und der christlichen Anthropologie verankert ist. „In der liberalen Tradition der Menschenrechte von Locke bis Kant und darüber hinaus im 19. Jahrhundert war Freiheit zunächst als Selbstzweck verstanden. Das war wohl auch der Punkt, an dem sich eine Spannung aufgetan hat, weil im katholischen Verständnis Freiheit nicht ein Selbstzweck des Lebens ist, sondern nochmals unterschieden wird zwischen dem guten und dem schlechten Gebrauch der Freiheit. Das gibt es aber in den Theorien wie denen von Locke oder Kant nicht. Es entspricht ja einem Prinzip des klassischen Liberalismus, dass der Freiheitsgebrauch nicht noch einmal aus einer übergeordneten Perspektive bewertet wird, sondern dass das Recht einfach nur dazu dient, Freiheitsräume zu schaffen, in denen dann ein Freiheitsgebrauch stattfinden kann … Diese Trennung hat die Kirche … vielfach erst im 20. Jahrhundet nachvollogen“ (Markus Rothhaar).

 

Trennung der Spreu vom Weizen

 

So ist zu verstehen, dass der Heilige Papst Johannes XXIII. die Menschenrechte kirchenamtlich erstmals in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ von 1963 akzeptierte. Auf der Grundlage der Entwicklungen im bisherigen päpstlichen Lehramt des 19. und 20. Jahrhunderts von Leo XIII. („Libertas praestantissimum“) bis Johannes XXIII. („Pacem in terris“) konnten auch die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ und – im Hinblick auf die Religionsfreiheit – in der Erklärung „Dignitatis humanae“ die Menschenrechte und insbesondere die Freiheitsrechte annehmen und positiv würden. Die Kirche hatte im Licht des Evangeliums die Spreu des negativ besetzten Freiheitsbegriffes der Französischen Revolution und ihrer falschen philosophischen Prämissen stets deutlicher erkannt und konnte sie somit vom Weizen des christlich-naturrechtlichen Freiheitsbegriffes trennen. 17 Jahre nach der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ durch die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 und 224 Jahre nach der Französischen Revolution hat die Kirche mit dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1965 nach einer mehr als 200-jährigen Epoche  der Abwehr und der Frontstellung die Idee der Menschrechte dank des läuternden Lichtes des Evangeliums kirchenamtlich wieder bejaht.

 

Naturrecht keine Eigenlehre der Katholischen Kirche

 

Vor allem die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in ihrem Lehramt erneut auf die naturrechtliche Begründung der Menschenrechte direkt oder indirekt hingewiesen. Damit erteilt die Kirche nach wie vor der liberalistischen Menschenrechtsidee der Neuzeit eine Absage.   Sie filtert aber im Licht des Evangeliums und der „philosophia perennis“ die Schwachpunkte der neuzeitlichen Menschenrechtsidee heraus und anerkennt in diesem Licht in einem Prozess der Unterscheidung deren positiven Kern.

 

Die Naturrechtslehre ist keine Eigenlehre der Katholischen Kirche, wie man irrtümlicherweise häufig meint und der Kirche entgegenhält. Naturrecht findet sich schon in der (paganen) Antike (Platon, Aristoteles, Cicero, Seneca, in der Anwendung bei konkreten Rechtsfällen der Römischen Juristen [Digesten bzw. Pandekten im Corpus Iuris Civlis], dann auch bei den griechischen Dramatikern, vor allem Sophokles (Tragödie: Antigone). Zurecht schreibt darum Paulus in seinem Römerbrief: „Wenn die Heiden (lies z.B. Platon, Aristoteles,  Sophokles, Cicero, Seneca etc.) die kein Gesetz haben, von Natur aus die Vorschriften des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die kein Gesetz haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen ja, dass die Forderungen des Gesetzes in ihr Herz geschrieben sind, wovon auch ihr Gewissen Zeugnis ablegt und die Gedanken, die einander anklagen und verteidigen“ (Röm 2, 14 f.). Von den 10 Geboten können das 4. bis 10 Gebot auch aus dem Naturrecht und damit aus der Vernunft abgeleitet werden. Um diese zu erkennen, bedarf es keiner Offenbarung. Glaube und Vernunft stimmen überein. 

 

 

 

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